Respiro - Musik, die berührt, In Memoriam Walter Nater (1938 - 2012)

Die Tempobestimmung auf Grund des Pendels

Prolog

Um die nachfolgenden Erklärungen zu verstehen, ist es wichtig, einen kurzen Blick auf die Zeitvorstellungen der damaligen Zeitepochen zu werfen.

Wenn man früher von Tag sprach, war immer nur der helle Tagesteil gemeint: Dann wird gearbeitet, in der Nacht wird geruht, deshalb wird sie nicht „gezählt”. Für die Leute war es selbstverständlich, dass auf jede Arbeitsphase eine Ruhephase folgt – quasi ausserhalb der Zeit. So kann man auf „geschichtsforum.de” folgendes nachlesen:

Hieraus lässt sich sehr gut erkennen, dass die Menschen im Mittelalter einen anderen Tagesbegriff hatten als wir, denn für sie gab es nicht einen 24-Stunden-Tag, sondern eben Tag und Nacht, wobei der Tag für die alltäglichen Tätigkeiten (Arbeit, Politik, Studium, Gebet, Kampf etc.) war und die Nacht für die Ruhe. Für die konkrete Tagesangabe (z.B. 29. Juli) war ... die Nachtzeit nicht relevant. Für alle bzgl. Datumsangabe in Frage kommenden Dinge war ehedem lediglich die Tageszeit von Belang.

Die erste Uhr war ja auch die Sonnenuhr: „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit'ren Stunden nur”. Dann kam die gute alte Analog-Uhr mit der 12-Stunden-Anzeige. Und so wie die Natur seit Jahrtausenden die Nacht als Ruhepause nach dem Tag braucht, braucht der Mensch auf jede Arbeitsphase eine Ruhephase. So wie alles im Leben zweiteilig ist, sei es Tag und Nacht, Mann und Frau, Ein- und Ausatmen, Systole und Diastole, so gilt dies auch für die musikalische Zeiteinheit. So wie der Pulsschlag zweiteilig ist, so ist es auch die Musik.

Thesis – Arsis

Thesis bedeutet Niederschlag, Arsis „das Aufheben” (Mattheson). Auch ein Dreiertakt ist im Grunde zweiteilig, aber nicht zweihälftig!

Der einfache gerade Takt hat zwei gleiche Teile, der ungerade Takt zwei ungleiche Teile. Diese Aufteilung gilt aber nicht nur für die Takte, sondern auch die Noten: so ist eine Viertelnote im normalen C-Takt eigentlich eine Zwei-Achtelnote mit Nieder- und Aufschlag – und so muss sie auch in sich atmen! Dadurch wird die Musik lebendig und ist nicht „klinisch tot”.

Das Pendel

Mit der Aufweichung der festen Temporegeln kam vor allem bei den Musiktheoretikern der Wunsch auf, das Tempo irgendwie zu fixieren. So kam man auf das (Sekunden-)Pendel, welches Galileo Galilei 1581 erfand. Das Pendel mit seinen harmonischen Schwingungen entsprach den Handbewegungen des Taktschlagens. Eigenartig ist nun der Umstand, dass die Definition des Pendels von Anfang an zu Missverständnissen Anlass gab:

Galilei definierte das Sekundenpendel als ein Pendel mit einer Länge von knapp einem Meter und mit einer Schwingungszeit von zwei Sekunden. Es ist also klar: die Schwingungszeit beinhaltet zwei Bewegungen, wovon aber nur die eine Bewegung gemessen wird: eine Sekunde, deshalb die Bezeichnung „Sekundenpendel”. Man könnte dies im obigen Sinn auch als Arbeits- und Ruhephase definieren, welche zusammen die Einheit bilden. Oder im musikalischen Sinn: Die Hinbewegung ist Thesis, die Zurückbewegung dann Arsis. So weit, so gut!?

Im Jahre 1793 liest man im „physicalischen Wörterbuch“ von J. S. T. Gehler folgende Definition:

Schwung, Oscillatio s. Vibratio penduli, Oscillation ou Vibration d'une pendule.

So nennt man in der höheren Mechanik das Hin- und Hergehen des Pendels. Ein Hingang und ein Rückgang zusammen heissen ein Schwung, ein ganzer Schwung (Oscillatio composita); der Hingang, oder der Rückgang allein, ist also eigentlich ein halber Schwung (Oscillatio simplex). Aber dieser Unterschied der Benennungen wird von den Schriftstellern nicht überall genau beobachtet, und selbst Huygens versteht unter seinen Oscillationen blos halbe oder einfache Schwünge, ohne das Beywort simplex hinzu zu setzen. Sehr oft muss man nur aus dem Zusammenhange errathen, ob von halben oder ganzen Schwüngen die Rede sey, und mehrentheils werden, wie beym Secundenpendel, nur einfache oder halbe Schwünge verstanden.... Um die hier erwähnte Zweydeutigkeit zu vermeiden, schlägt Hr. Hofrath Kästner (...) vor, mit dem Worte Schwung allezeit den ganzen Schwung des Pendels zu bezeichnen, dem halben hingegen lieber den Namen eines Pendelschlags zu geben.

Was grundsätzlich feststeht: mit den Zeitangaben für eine Oszillation oder Vibration ist ursprünglich immer nur der Hinweg gemeint, ob dieser nun von links nach rechts oder umgekehrt definiert wird. Damit ist aber immer nur die Hälfte der Zeiteinheit gemeint, denn zur Einheit gehören zwei Bewegungen!

Trotzdem hat sich der Begriff des Sekundenpendels im 19. Jahrhundert geändert: Nun war plötzlich das Sekundenpendel ein Pendel mit einer Schwingungszeit von „genau einer Sekunde” (Meyers Konversation-Lexikon 1888)!